Ein Teelöffel für mutige Frauen

Laudatio von Martin Pollack, Mitglied des Stiftungsrates

Wir leben in turbulenten Zeiten, geprägt von Unsicherheiten und Krisen. Darüber erfahren wir jeden Tag aus den Medien, mit wachsender Sorge, worauf wir zusteuern. Wie wird das enden, wo führt das hin? Andere, nicht weniger brisante Fragen werden durch das weltweite Finanzbeben in den Hintergrund gedrängt, die Menschen und ihre Probleme kommen in diesen Berichten kaum vor, als handle es sich dabei um vernachlässigbare Faktoren. Alles dreht sich um Staatsschuldenquoten, um Konsolidierungsbeiträge, um Zinssätze, um eine Rekapitalisierung der Banken und anderer Finanzinstitute, die angeblich um jeden Preis vor dem Zusammenbruch bewahrt werden müssen.

Die ganze Welt hält den Atem an und schaut gebannt zu, wie wichtige Staatenlenker in immer kürzeren Abständen zu hastig einberufenen Sitzungen zusammentreten, um zu beraten, auf welche Weise man die Krise bewältigen, sie aus der Welt schaffen oder zumindest eindämmen könne. Dazu werden gigantische Summen aufgeboten, riesige Hilfspakete geschnürt und noch größere finanzielle Rettungsschirme beschlossen, deren Umfang die Vorstellungen durchschnittlicher Bürger und Steuerzahler längst bei weitem überschritten hat.

Wenn ich mir die ungeheuren Mittel vor Augen führen, die in den letzten Jahren dafür aufgewendet wurden und in Zukunft sicher noch aufgewendet werden, um einen worst case abzuwenden, von dem manche meinen, dass er längst eingetreten ist, dann stelle ich mir manchmal eine Frage, die vielleicht weltfremd und hoffnungslos naiv klingen mag: Was wäre, wenn? Was wäre, wenn die Vertreter von Politik und Wirtschaft, die für die Bewältigung der Finanzkrise schier unermessliche Mittel einzusetzen bereit sind, nur einen Bruchteil davon für die Durchsetzung der Menschenrechte ausrichten würden? Für den Kampf gegen die weltweite Armut, gegen den Hunger, gegen soziale Ungleichheiten, gegen das Elend von Flüchtlingen, gegen die Gewalt in verschiedensten Formen, von bewaffneten Übergriffen gegen wehrlose Zivilisten bis hin zur sexuellen Gewalt gegen Frauen, eine der perfidesten Formen der Unterdrückung?

Was wäre, wenn die Politiker in Europa, in den Vereinigten Staaten, in Lateinamerika und anderswo ihre Aufgaben ernst nehmen und tatsächlich das tun würden, wofür sie in ihre Ämter gewählt wurden, nämlich sich in erster Linie um das Wohlergehen der Menschen zu kümmern? Die Antwort ist einfach: Dann stünden wir nicht hier.

Dann könnte die Organizacion Femenina Popular in Kolumbien sich anderen, nicht weniger wichtigen Aufgaben zuwenden als der Hilfe für Flüchtlinge, für verfolgte und bedrohte Frauen und Kinder. Ich bin mir sicher, dass es an solchen Aufgaben in Kolumbien nicht mangelt. Dann könnte Frau Daniela Stirnimann-Gemsch aus dem schönen Valzeina im Prättigau in Graubünden sich, gemeinsam mit ihrem Mann Guido, mit allen Kräften und ausschließlich um ihre Landwirtschaft kümmern, um die Gäste, die sie auf dem biologisch geführten Hof beherbergen, um die Herstellung des wunderbaren Schafkäses, den sie dort produzieren. Eine Landwirtschaft bereitet viel Arbeit, das weiß ich, ich lebe selber in einem Dorf, im Südburgenland in Österreich, auf einem alten Bauernhof, allerdings nenne ich nur einen großen Gemüsegarten und ein paar Streuobstwiesen mein eigen, ein winziger Besitz, der mich trotzdem viel Kraft und noch mehr Zeit kostet.

Natürlich ist es völlig unrealistisch, von der Politik ein solches Engagement für die Menschenrechte, für Flüchtlinge und Verfolgte, für Hungrige und Gefolterte zu erwarten. In Polen würde man das marzenie ściętej głowy nennen, das Träumen eines abgeschnittenen Kopfes, also etwas, was einfach undenkbar, völlig unvorstellbar erscheint. Obwohl es eigentlich so naheliegend wäre. Aber die Politik setzt sich nun einmal andere Prioritäten, so bedauerlich das auch sein mag.

Umso dankbarer sind wir, dass es Menschen gibt, die sich von diesem Umstand nicht entmutigen lassen, die die Hände nicht in den Schoß legen, den Kopf nicht einziehen, den Blick nicht abwenden, wenn Menschen Unrecht zugefügt wird, sondern die sich für andere einsetzen, dafür, dass andere ein Leben in Würde führen können, auch wenn die Anderen Fremde sind, die ihnen ihre Hilfe anbieten, obwohl sie vielleicht selber der Hilfe bedürfen. Die Helfer sind eine Minderheit. Immer und überall. Die Kämpfer für die Menschenrechte, für Flüchtlinge und Bedrängte stehen in der Regel allein da, nur zu oft allein gegen eine Übermacht. Sie stehen allein da gegen übermächtige Behörden, die Helfer in vielen Fällen in ihrem Tun behindern, ihnen Hindernisse in den Weg legen, ja sie oft kriminalisieren, sie verfolgen, weil sie anderen helfen. Sie stehen allein gegen übermächtige Militärs und Paramilitärs, die ihre Waffen gegen friedliche Bürger richten, nur zu oft auch und sogar zuerst gegen die Helfer, die es wagen, sich gegen Unrecht und Gewalt aufzulehnen und diese anzuprangern. Die Helfer sind oft allein, aber ohnmächtig sind sie nicht.

Allein die Tatsache, dass es Menschen gibt, die es wagen, dem Unrecht und der Willkür die Stirn zu bieten und mit friedlichen Mitteln Widerstand zu leisten, die nicht gleichgültig wegschauen, sondern die Stimme erheben und vor allem handeln, allein diese Tatsache ist ungeheuer wichtig. Diese mutige Haltung ist eine Aufforderung an uns alle, diesem Beispiel zu folgen und uns einzumischen, zu protestieren, wenn irgendwo Unrecht geschieht, wenn Menschen erniedrigt werden, und Hilfe zu leisten, in jeder erdenklichen Form.

Manchmal ist das natürlich nicht leicht, manchmal braucht das viel Überwindung, viel Mut. Ich spreche hier nicht von unseren Ländern, ich spreche nicht von unserem Teil Europas, obwohl auch hier der Einsatz für die Menschenrechte, für Flüchtlinge und Verfolgte den Helfern Nachteile bringen kann, wie Frau Daniela Stirnimann-Gemsch sicher mehr als einmal erfahren musste. Aber in anderen Teilen der Welt ist dieser Einsatz mit einem noch viel größeren Risiko verbunden. In vielen Fällen setzen die Helfer ihre eigene Gesundheit, ihre eigene Sicherheit und die ihrer Familien, ja ihr eigenes Leben aufs Spiel. Sie werden selber verfolgt, eingesperrt, gefoltert, ermordet, weil sie sich mit dem Unrecht nicht abfinden wollen, sondern ihre Stimmen erheben und für andere eintreten, die noch schwächer sind als sie selber, die keine Stimme haben, die tatsächlich ohnmächtig sind oder vielmehr ohnmächtig gemacht wurden. Es ist eine erschreckende, aber alltägliche Erfahrung, dass Gewalt ohnmächtig macht, dass sie den Menschen die Stimme raubt, dass sie ihre Blicke, ihre Köpfe zu Boden zwingt. Allein die Androhung von Gewalt lässt viele Menschen verstummen, bringt sie dazu, sich widerstandslos in ihr Schicksal zu fügen.

Wenn wir über die Ohnmacht von Unterdrückten und Verfolgten sprechen, dürfen wir eines nie vergessen: Es steht uns nicht zu, Kritik an dieser Haltung zu üben. Das wäre arrogant und vermessen. Wir, die wir im sicheren, wohlhabenden Teil der Welt leben, dürfen uns nicht anmaßen, uns in die Lage, in die Köpfe von Flüchtlingen, von Verfolgten, von Gefolterten, von Vergewaltigten und ihrer Würde Beraubten hineindenken zu wollen. Das ist unmöglich. Wir können uns nicht vorstellen, was es bedeutet, wenn jemand am Abend nicht weiß, ob er am nächsten, vielleicht übernächsten Morgen nicht von Schergen abgeholt, ohne Anklage eingesperrt, drangsaliert oder gar umgebracht wird. In dieser für uns unvorstellbaren Atmosphäre der Bedrohung leben zahlreiche Kämpfer für die Menschenrechte, wie die Frauen der Organizacion Femenina Popular, Tag für Tag.

Umso bewundernswerter ist es, dass sich diese Frauen nicht einschüchtern lassen, obwohl sie sehr gut wissen, was ihnen droht. Kolumbien ist keine Ausnahme, solche Zustände herrschen auch in anderen Ländern Lateinamerikas, Asiens, Afrikas …Aber auch in Europa sind die Kämpfer für Menschenrechte nicht immer ihres Lebens sicher, wir brauchen nur nach Russland zu schauen, nach Belarus, Weißrussland, oder in die Ukraine, wo wir seit einiger Zeit einen bestürzenden Rückfall in alte Zustände beobachten können. Doch auch in diesen Fällen steht es uns nicht zu, auf diese Länder herabzuschauen und ungläubig den Kopf zu schütteln ob der dort herrschenden Zustände, die in der zivilisierten Welt eigentlich nicht vorkommen dürften.

Es ist noch nicht so lange her, dass auch mitten in Europa Menschen verfolgt, gefoltert, in Lager gesperrt, er-mordet wurden, wegen ihrer Herkunft, weil sie einer anderen Religionsgemeinschaft angehörten, wobei sich die Gewalt oft gegen die direkten Nachbarn richtete, die nebenan wohnten, im nächsten Haus, im nächsten Dorf. Ich habe als Journalist die Kriege im zerfallenden Jugoslawien beobachtet, die Kämpfe, die Massaker, die ethnischen Säuberungen, den gegenseitigen Hass, der ganz bewusst von Politikern und Ideologen geschürt wurde. Viele von uns meinten damals, so ein Ausbruch sinnloser Gewalt sei in Europa nur auf dem Balkan möglich, wo angeblich noch Wilde hausten. Ich wäre mir da nicht so sicher.

Ich habe in den sechziger Jahren in Warschau studiert. Polnisch und polnische Literaturgeschichte. Mit der polnischen Literatur bin ich seither eng verbunden, als Übersetzer und Publizist. Als ich in Warschau zu studieren begann, wusste ich noch nicht, dass zweiundzwanzig Jahre zuvor auch mein Vater in Warschau gewesen war, allerdings nicht als Student der polnischen Literatur, sondern als Kommandant eines Sonderkommandos einer Einsatzgruppe, eines Mordkommandos. Mein Vater leistete mit den von ihm befehligten Leuten einen blutigen Beitrag zur Niederschlagung des Warschauer Aufstandes im Sommer 1944. Da wurden zehntausende unschuldige Zivilisten ermordet, auch Frauen und Kinder, sie wurden erschossen, erschlagen, lebendigen Leibes in den Häusern verbrannt, von Menschen wie meinem Vater, der in Graz studiert und sein Doktorat gemacht hat, ein gebildeter, zivilisierter Europäer. Solche waren in Warschau viele dabei, und nicht nur dort, auch in Belzec, in Auschwitz, in Treblinka, in den bloodlands im Osten Europas, um einen Titel des amerikanischen Historikers Timothy Snyder zu zitieren. An diesen Massakern waren Österreicher und Deutsche beteiligt, Angehörige europäischer Kulturnationen. Zweiundzwanzig Jahre lagen zwischen dem Aufenthalt meines Vaters und meinem in Warschau, zwischen den Massenmorden, an denen er teil-nahm, und meinem Studium der polnischen Literatur. Zweiundzwanzig Jahre, das ist eine kurze Zeitspanne.

In denselben Jahren, von denen hier die Rede ist, rettete Paul Grüninger, nach dem die Preise benannt sind, die wir heute verleihen, zahlreichen Menschen, Juden, das Leben, indem er ihnen die Flucht über die damals bereits geschlossene Schweizer Grenze ermöglichte. Ohne diese mutige Haltung hätten viele von ihnen ihr Leben verloren, wären in den Vernichtungslagern umgekommen. Für seine Hilfe bezahlte Paul Grüninger mit dem Verlust seiner beruflichen und sozialen Stellung. Doch er zögerte nicht, sich dem Unrecht, der Ge-walt entgegenzustellen, die damals in weiten Teilen Europas herrschten.

Ich bin also skeptisch, wenn manchmal von den unfassbaren Grausamkeiten die Rede ist, die in Afrika, in Asien, in Lateinamerika, jedenfalls meist weit weg von hier, gegen unschuldige Menschen verübt werden. Ist das alles wirklich so weit weg?

Im Kampf für die Menschenrechte, für die Menschenwürde, spielen Frauen eine hervorragende Rolle, das hat eine lange Tradition in der Geschichte und Literatur, wir brauchen nur an das Beispiel von Lysistrata zu denken. Frauen sind besonders bedroht durch Gewalt, die in den meisten Fällen von Männern ausgeübt wird, in Uniform oder Zivil, aber Frauen sind oft auch die ersten, die sich mutig dagegen auflehnen, ohne Rücksicht auf ihre eigene Sicherheit. Es ist daher kein Zufall, dass in diesem Jahr der Friedensnobelpreis an drei afrikanische Frauen verliehen wurde und auch die beiden Preise, die wir hier in St. Gallen verleihen, an Frauen gehen, an eine Frauenorganisation aus Kolumbien und an Frau Stirnimann-Gemsch aus der Schweiz. Das ist ein ermutigendes Signal, dass die Rolle der Frauen im Kampf für die Menschenrechte zunehmend gewürdigt wird.

Diesen Kampf müssen wir nicht nur in den Ländern der so genannten Dritten Welt führen, weit weg von Europa, sondern auch hier, in der Schweiz, in Deutschland, in Frankreich, in Österreich. Überall. Tag für Tag. Dass der Paul-Grüninger-Preis in diesem Jahr zum ersten Mal in die Schweiz geht, ist ein deutlicher, ja alarmierender Hinweis, dass auch in unseren Breiten Unrecht geschieht, dass auch hier, gleich nebenan, Menschen unsere Hilfe brauchen, Flüchtlinge und Verfolgte. Frau Daniela Stirnimann-Gemsch ist ein leuchten-des Beispiel dafür, wie wichtig es ist, nicht gleichgültig wegzuschauen, obwohl das natürlich bequemer ist, sondern die Initiative zu ergreifen, Solidarität zu üben. Die Frauen, die wir hier auszeichnen, stehen stellvertretend für viele, derer wir heute an dieser Stelle ebenfalls gedenken wollen. Ihnen allen gebührt unser Dank.

Diese Vorbilder sind eine unüberhörbare Aufforderung an jeden von uns, nicht passiv zuzuschauen oder gar wegzuschauen, sondern zu handeln. Gemeinsam mit anderen, die ebenso denken. Der israelische Prosaautor Amos Oz hat das in einer schönen Parabel ausgedrückt: Was kann ein einfacher Menschen tun, wenn er mit einer Katastrophe konfrontiert ist, zum Beispiel mit einem verheerenden Feuer, das seinen Wohnblock erfasst hat. Amos Oz skizziert drei Möglichkeiten: Man kann erstens davonlaufen, sich selber in Sicherheit bringen und diejenigen, die nicht mehr laufen können, weil sie zu alt, zu jung, zu schwach sind, den Flammen überlassen. Oder, die zweite Möglichkeit, man kann einen aufgebrachten Prostest schreiben und an seinen Abgeordneten schickt, an eine Behörde oder an den Herausgeber einer Zeitung, mit der Aufforderung, gefälligst unverzüglich etwas gegen die Flammen zu tun. Und dann gibt es noch eine dritte Möglichkeit, die laut Amos Oz darin besteht, dass man die Sache selber in die Hand nimmt, einen Kübel mit Wasser holt und sich unverzüglich daran macht, die Flammen zu löschen. Und wenn man keinen Kübel zur Hand hat, dann soll man ein Glas nehmen, ein gewöhnliches Trinkglas, und dieses immer wieder füllen und in die Flammen leeren. Und wenn man nicht einmal Glas hat, dann soll man einen Teelöffel nehmen, um damit die Flammen zu löschen. Einen Teelöffel, so Amos Oz, hat jeder von uns zur Hand. Natürlich ist das Feuer riesig und der Teelöffel im Vergleich dazu winzig, aber wir sind schließlich viele Millionen, und wenn jeder von uns einen Teelöffel nimmt und in die Flammen leert, wird es sicher gelingen, diese zu löschen.

Um diesen einfachen Gedanken zu verbreiten, dass viele helfende Hände imstande sind, selbst die größte Katastrophe zu bewältigen, hat Amos Oz den Order of the Teaspoon, den Orden des Teelöffels, ins Leben gerufen. Die Menschen, so Amos Oz, die meine Haltung teilen, nicht die Weglauf-Haltung und nicht die Briefschreibe-Haltung, sondern die Teelöffel-Haltung, sollten einen kleinen Teelöffel am Revers ihrer Jacke tragen, damit wir wissen, dass wir derselben Bewegung angehören, derselben Bruderschaft, demselben Orden, dem Orden des Teelöffels.

Die Vertreterinnen der Organizacion Femenina Popular und Frau Daniela Stirnimann-Gemsch haben meines Wissens keinen Teelöffel angesteckt, aber sie repräsentieren genau diese Haltung, von der Amos Oz spricht. Und auf die kommt es an. Dafür zeichnen wir sie heute aus, dafür wollen wir ihnen danken.

Martin Pollack, St. Gallen 11. November 2011