Die Flüchtlinge, Paul Grüninger und die Erinnerungspolitik

Gespräch am St. Galler Montagsforum vom 27. Februar 2023 mit Lea Haller, Stefan Keller und Paul Rechsteiner.

Lea Haller ist Redaktionsleiterin von «NZZ-Geschichte», Stefan Keller ist Journalist und Autor des Buches «Grüningers Fall», Paul Rechsteiner ist ehemaliger Ständerat und Präsident der Paul Grüninger Stiftung.

Emigrantenschmuggler an der Schweizer Grenze

Stefan Keller

Der Text erschien erstmals in: Wolfram Wette [Hrsg.], «Stille Helden. Judenretter im Dreiländereck während des Zweiten Weltkriegs», Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 2005)

Marie Grimm, Fluchthelferin, 1999

Am 20. Dezember 2004 starb in Genf die pensionierte Lehrerin Aimée Stitelmann-Stauffer, eine freundliche und bescheidene, fast achtzigjährige Frau. Wenige Monate vor ihrem Tod war Aimée Stitelmann für kurze Zeit berühmt geworden: Die «New York Times», «Le Monde», die «Süddeutsche Zeitung» und fast alle schweizerischen Blätter veröffentlichten Artikel über sie, denn Stitelmann gehörte zu jenen Menschen, die im Zweiten Weltkrieg jüdische Flüchtlinge über die Grenze gerettet hatten und dafür von den Schweizer Behörden bestraft worden waren. Aimée Stitelmann-Stauffer war eine der letzten noch lebenden Fluchthelferinnen aus der Zeit des Nationalsozialismus. Ausserdem war sie die erste, auf die ein neues, seit 1. Januar 2004 geltendes Gesetz angewandt worden ist: Im März 2004 beschloss eine Kommission der Eidgenössischen Räte – des Schweizer Parlamentes – Aimée Stitelmann formell zu rehabilitieren. Eine Strafe von achtzehn Tagen Arrest, die sie 1945 wegen illegalem Überschreiten der Grenze und wegen «Ungehorsam» abgesessen hatte, gilt seither als aufgehoben. Eine materielle Wiedergutmachung erhielt Frau Stitelmann jedoch nie.

Jüdischer Widerstand

Aimée Stitelmann war siebzehnjährig, als sie Ende 1942 die jüdischen Kinder Hella und Uriel Luft aus Berlin im französischen Annemasse abholte und über die Grenze ins nahe Genf begleitete. Die Kinder wurden von den Schweizer Behörden nicht zurückgeschickt; Jahre später wanderten sie nach Amerika aus, wo sie heute noch leben.

Über Paul Grüninger

Stefan Keller

Alice und Paul Grüninger-Federer (Familienbesitz, ohne Jahr)

Referat vor dem Bundesverwaltungsgericht in St. Gallen, 22. November 2017

Meine Damen und Herren, vielen Dank für die Einladung

Wenn man von Paul Grüninger erzählt, der Flüchtlinge gerettet hat, dann muss man immer auch über die Flüchtlinge sprechen, die von ihm gerettet wurden. Ich hatte das grosse Privileg, noch mehrere Dutzend jüdische Flüchtlinge persönlich zu kennen, die dank Paul Grüninger und anderen Helfern oder Helferinnen hier im Kanton St. Gallen aufgenommen wurden und deshalb am Leben bleiben durften. Sie hiessen zum Beispiel Karl und Susi Haber, Benno Mehl und Sally Seifert, Erich Billig, Harry Weinreb, Rosa Schkolnik, Lilly Badner oder Klara Birnbaum, Judith Kohn, Lotte Bloch und so weiter – und sie wohnten, als ich sie kennenlernte, in aller Welt: in Europa, in Amerika, in Israel. Sie waren Zeitzeugen für meine Recherchen – sie wurden Zeugen im Prozess zur Rehabilitierung von Paul Grüninger. Mittlerweile sind fast alle diese Überlebenden in hohem Alter gestorben. Die meisten haben Kinder und Enkel hinterlassen.