Helvetia in Helvetistan

Roman Berger

Ein Grund, warum die Paul Grüninger Stiftung dieses Jahr zwei mutige Menschen aus Usbekistan ehrt, hat auch mit unserem Land zu tun. Das hat folgenden Hintergrund: Nach einer Volksabstimmung war die Schweiz 1992 bereit, den Institutionen von Bretton Woods beizutreten, das heisst dem Internationalen Währungsfond, der Weltbank und der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung. Die Schweiz stand vor der Wahl, einfach ein Mitglied zu werden und einer bestehenden Stimmrechtsgruppe beizutreten. Die Finanzgrossmacht Schweiz hatte mehr im Sinne, sie wollte sich nicht mit einer gewöhnlichen Mitgliedschaft begnügen. Sie wollte dem 24 köpfigen Direktorium angehören, wo sie ihre Interessen besser wahrnehmen kann.

Aber dazu musste unser Land eine eigene Stimmrechtsgruppe bilden, die sie im Direktorium vertreten kann. Das war nicht so einfach. Verschiedene Versuche, eine solche Gruppe mit Ländern zu bilden, miss-langen. Doch die Schweiz hatte Glück. Nach dem Verschwinden der Sowjetunion gab es plötzlich 15 neue unabhängige Staaten, die ebenfalls diesen Gremien beitreten wollten. Bern gelang es, aus einigen zentralasiatischen Ländern, den sogenannten «stan» – Ländern, eine Stimmrechtsgruppe zu bilden, zu der später noch andere Länder stiessen. Diese unter dem Patronat von Helvetien stehende Stimmrechtsgruppe erhielt den Spitznamen «Helvetistan».

Natürlich hatte Helvetien gegenüber Helvetistan jetzt auch eine gewisse Verpflichtung.

1994 eröffnete die Schweiz in Taschkent, der Hauptstadt Usbekistans, eine Botschaft. Damals war Usbekistan das wirtschaftlich führende Land in Zentralasien. Auch politisch galt Usbekistan als Hoffnungsträger. Präsident Karimow wurde im Westen hofiert. Und innerhalb des Regimes glaubte man, reformbereite Kräfte ausmachen zu können, die eines Tages das Land auf Reformkurs bringen könnten.

«Helvetistan» wurde zu einer Schwerpunktregion der schweizerischen Entwicklungshilfe, der DEZA. Ihre Zielsetzungen waren hoffnungsvoll. In einem Dokument der DEZA hiess es etwa: «Die technische Unterstützung und die Finanzhilfe an diese Staaten sollen deren Übergang zu Demokratie und Marktwirtschaft fördern…» Solche Ziele wurden in der damaligen Euphorie auch für andere ex-sowjetische Staaten formuliert.

Ich war damals Korrespondent in Moskau und konnte beobachten, wie die schweizerische Entwicklungshilfe in Russland ihre ersten Schritte unternahm und dabei auch peinliche Fehltritte machte. Rückblickend muss man sagen, das war unvermeidlich. Wir wussten einfach zu wenig über die post-sowjetische Welt. Und ich spreche bewusst von Wir, weil ich auch mich und die ganze Zunft der Journalisten dazu zähle.

Jahrzehntelang war die Sowjetunion für uns identisch mit Moskau, dem Kreml. Jetzt gab es plötzlich russische Teilrepubliken, die Schlagzeilen machten: Tatarstan, Tschetschen-ien. Und aus dem Nachlass der Sowjetunion erschienen vollkommen neue unabhängige Staaten auf der Weltbühne mit exotischen Namen wie: Tadschikistan, Turkmenistan oder eben Usbekistan. Wenn schon Russland für den Westen ein schwarzes Loch war, wie viel mehr war der sogenan-nte Hinterhof Russlands, Zentralasien, „terra incognita“.Ich weilte 1997 zum ersten Mal in Zentralasien. Ein ganz besonderes Erlebnis war, als wir (ich war mit einem Kollegen unterwegs) auf dem Landweg die Grenze von Usbekistan nach Tadschikistan überquerten. Die Grenzposten auf beiden Seiten waren auch 6 Jahre nach dem Verschwinden der SU immer noch improvisiert. Neben einem provisorischen Schlagbaum standen einige primitive Hüttchen. Man spürte, wie diese Länder sich mit ihrer Unabhängigkeit immer noch schwertaten. Es war eine Unabhängigkeit, die viele gar nicht wollten.

Nun zu erwarten, in diesen Ländern würden sich rasch Demokratie und Marktwirtschaft entwickeln, war unrealistisch. Demokratie konnte nicht mit technischer Hilfe und Geld oder der Hilfe einiger ausländischer NGOs sozusagen aus dem Boden gestampft werden. „Democracy- Building“, wie der amerikanische Terminus heisst, erwies sich als Illusion.

Die lange unter Vormundschaft und Abhängigkeit stehende Bevölkerung musste sich ja einmal zu-erst selber organisieren. Dies hatte mir bei einem zweiten Besuch im Jahre 2004 ein Projektleiter im Auftrag des EDA erklärt: «Wir befinden uns auf dem Holzweg, wenn wir in dieser Gesellschaft Institutionen nach unseren Vorstellungen verändern wollen.» Der Schweizer Jurist, der jahrelang in der Fürsorge einer Basler Landgemeinde tätig war, meinte: «Sinnvoll ist es, den Dialog zwischen der noch wenig organisierten Bevölkerung und der Regierung von unten nach oben auf lokaler und regionaler Ebene zu fördern.»

Ein solches Dialog-Training hatte damals die politische Abteilung IV des EDA für lokale Persönlichen aus den drei Ländern Usbekistan, Kirgistan und Tadschikistan organisiert. Ich hatte Gelegenheit, einen solchen Trainingskurs zu besuchen. Der Ort, wo dieses Training stattfand, hiess Fergana. Ein Jahr später brach genau in dieser konfliktreichen Region, in der Stadt Andischan, ein Aufstand aus, der durch die Regierungstruppen in einem Massaker mit Hunderten von Todesopfern erstickt wurde. Hier explodierte ein Pulverfass. Das Massaker war die blutige Konsequenz einer Dialog-Unfähigkiet und Dialog-Verweigerung auf allen Ebenen.

Nach der blutigen Niederschlagung des Volksaufstandes von Andischan nahm die Schweiz gegenüber Usbekistan eine kritischere Haltung ein und überprüfte auch die Entwicklungszusammenarbeit. Das Dialog-Projekt beispielsweise konnte nicht mehr durchgeführt werden.

Die EU erliess gegenüber Taschkent Sanktionen, denen sich Bern anschloss: Ein Einreiseverbot für eine Anzahl von hohen Regierungsbeamten, konkret die Verantwortlichen des Andischan Massakers, sowie ein Waffenembargo. Vor einem Monat hat die EU die Sanktionen gelockert. Die Einreisesperre wurde für sechs Monate ausgesetzt. Es ist noch nicht bekannt, ob die Schweiz nun auch diese Lockerung nachvollzieht.

Der wirtschaftliche Austausch zwischen der Schweiz und Usbekistan ist eher bescheiden. Es gibt eine sehr prominente usbekische Firma, die in Zug registriert ist. Es handelt sich um die Firma Zeromax. Die wichtigste Figur hinter Zeromax ist angeblich die ältere Tochter von Präsident Karimow, Gulnora. Zeromax gehören die grössten Unternehmen im Gas-, Gold-, Getränke- und Textilsektor.

Beziehungen zur Schweiz aufgenommen hat auch die jüngere Tochter Karimows, Lola. Sie lässt sich mit ihrer Familie am Genfer See nieder. Für eine usbekische Präsidententochter ist das ein leichtes Unterfangen. Das geht so vor sich: Über einen Genfer Anwalt lässt der Mann von Lola, ein gewisser Timur Tillayev, eine Firma namens «Freemont» gründen. Karimows Schwiegersohn lässt sich von seiner Firma zum Generaldirektor anstellen, wozu der Kanton Genf das entsprechende Kontingent erteilt, und Timur Tillayev kann damit automatisch seine Familie nach-ziehen lassen. So einfach geht das. Solche Informationen verbreiten sich in Usbekistan sehr rasch – trotz der vom Regime rigide kontrollierten Medien.

In der Schweiz leben auch ein gutes Dutzend Usbeken, die nach dem Massaker von Andischan als politische Flüchtlinge aufgenommen wurden. Einer von ihnen ist der Sohn eines bekannten Menschenrechtsaktivisten, den ich bei meiner jüngsten Reise im Fergana Tal getroffen habe. Sein Name ist Ahmadjon Madumrow. Er hat schon mehrmals vor internationalen Gremien die Repression in seinem Land verurteilt, zum letzten Mal auf Einladung des UNO- Menschenrechtsrates in Genf im vergangenen Jahr. Madumarow geniesst wegen seiner internationalen Bekanntheit einen gewissen Schutz. Umso brutaler geht das Regime gegen seine Familie vor. Drei Söhne sitzen seit 1999 im Gefängnis. Als nach Andischan auch noch zwei Neffen eingekerkert wurden, war die Schweiz bereit, einen vierten Sohn Madumarows als politischen Flüchtling aufzunehmen.

Eine reale Beziehung zwischen Helvetien und Helvetistan besteht im Baumwollhandel. Schweizer Firmen, zum Beispiel Paul Reinhart Winterthur, und in der Schweiz registrierte ausländische Unternehmen kaufen und vermarkten rund ein Drittel des usbekischen Baumwollexportes. Am Geschäft mit dem „weissen Gold“ ist auch Credit Suisse beteiligt. Die Schweizer Grossbank gewährt ausländischen Baumwollkäufern für die Vorfinanzierung Kredite. Menschenrechtsorganisationen und bekannte Institutionen wie die International Crisis Group haben die vom Staat kontrollierte Baumwollproduktion in Usbekistan als moderne Schuldsklaverei kritisiert, bei der auch Kinder ausgebeutet werden.

Die weisse Baumwolle ist also nicht so weiss, wie sie aussieht. Die Firma Reinhart hat mir auf Anfrage eine Stellungnahme zugeschickt. Dort heisst es, die Firma sei in der Vergangenheit in Usbekistan sehr aktiv gewesen. Nach den Protesten vieler westlicher Länder gegen das Vorgehen der Regierung in Andischan bestehe ein inoffizieller Boykott von Seiten der Usbeken gegen westliche Firmen. Die Firma Reinhart könne nicht mehr wie früher direkt einkaufen sondern nur noch über Drittparteien. Dabei handle es sich noch um etwa maximal fünf Prozent der gesamten usbekischen Baumwollproduktion. Die Firma habe in Usbekistan keinen Einfluss mehr.

Dazu ist folgendes zu sagen: Die Firma Reinhart hatte auch früher keinen Einfluss auf die bis heute vom Regime kontrollierte Baumwollproduktion. Vor zwei Jahren kommentierte die Firma den von mir zitierten Bericht der International Crisis Group: Wir kennen die Situation auf den Baumwollfeldern nicht. Mit anderen Worten: Was dort passiert – die Schuldsklaverei und Kinderarbeit -, geht uns nichts an. Jetzt sind es Drittparteien, über die Reinhart und auch die übrigen in der Schweiz registrierten Firmen einkaufen. Wer sie sind, das ist unbekannt. Sicher ist, dass diese Firmen in Taschkent weiterhin eine Niederlassung haben und sehr wohl Bescheid weiss, wie in Usbekistan Baumwolle produziert wird und wie sich das Regime auf wessen Kosten bei der Ausbeutung dieses wichtigen Rohstoffs bereichert.

Konkret zum Fall Usbekistan meint Reinhart: «Je mehr in den westlichen Medien gegen Usbekistan Stimmung gemacht wird, umso enger werden die Beziehungen der Usbeken zu anderen, nicht unbedingt demokratischen Ländern.» Das Winterthurer Unternehmen teilt hier die Position einer Reihe von EU- Staaten, die sagen, wenn wir Taschkent wegen den Menschenrechten, wegen Folter und politischen Morden offen kritisieren, treiben wir das Regime Karimow in die Arme der Russen und Chinesen. Auf dem Spiel stehen natürlich die Energieressourcen Zentralasiens. Europa will in der Energieversorgung von Russland unabhängiger werden und auf das energiereiche Zentralasien ausweichen. Mit anderen Worten: Gas und Oel haben Priorität vor Menschenrechten und Demokratie.

Eine andere Position nehmen Menschenrechtsorganisationen aber auch führende EU – Länder wie Grossbritannien ein. Sie sagen: Oel- Gas- Gold – und Baumwollreichtum in Usbekistan ohne demokratische Kontrolle fördern Korruption, Zerfall, Repression und damit langfristig den radikalen Islamismus. Und ein anderes wichtiges Argument: Wer kann heute noch Menschenrechte, Meinungsfreiheit und Folterverbot glaubwürdig anmahnen, ausser Europa ? Universale Menschen-rechte übrigens, die auch in der usbekischen Verfassung verankert sind. Die US – Regierung hat dazu ihre Glaubwürdigkeit verloren, denn auch in Taschkent hat man inzwischen erfahren, wie die USA in ihrem Krieg gegen den Terror ebenfalls Folter einsetzten. Die USA haben Gefangene zur sogenannten Befragung auch in die Folterkammern von Usbekistan geflogen .

Eine der eindrücklichsten Begegnungen während meiner jüngsten Reise hatte ich mit Nigara Khidoyatova. Die Historikerin und Geschäftsfrau ist Führerin der Partei der Freien Bauern. Sie lebt seit der Ermordung ihres Mannes vor zwei Jahren und der Verurteilung ihrer Schwester in ständiger Lebensgefahr. Sie fragte mich, ob man sich im Westen bewusst sei über die Hintergründe und den wahren Preis, den westliche Firmen und Banken im Geschäft mit dem usbekischen Regime zu zahlen hätten. Ob über Drittfirmen oder direkt, das macht keinen Unterschied. Die Frau erinnerte an folgende Tatsache: In Usbekistan befindet sich die ganze Wirtschaft in den Händen Karimows und der ihm loyalen Familienclans. Das heisst: Geschäfte mit diesem Regime sind unweigerlich Geschäfte, die den Repressionsapparat ölen. Konkret heisst das: die Sicherheits- und Geheimdienste, die Truppen des Innenministeriums, die für Tausende von Folteropfern und Hunderte von politischen Morden verantwortlich sind auch für das Massaker von Andischan.

Der Bundesrat hat das Massaker von Andischan als Repression verurteilt, die dafür direkt Verantwortlichen mit einer Einreisesperre bestraft und später einer Handvoll von Flüchtlingen politisches Asyl gewährt.

Gleichzeitig ist die Schweiz aber auch Steueroase und Gastland für Mitglieder der usbekischen Despotenfamilie und weiterhin ein wichtiges Glied im Baumwollhandel. Helvetia zeigt auch in Helvetistan ihr Janusgesicht. Das ist helvetische Geschichte. Auch der Name Paul Grüninger steht für diese Geschichte.

Der heutige Anlass möchte ein Zeichen setzen für die humanitären Werte, die die Schweiz vertritt. Aber auch ein Hoffnungszeichen für bessere Zeiten in Usbekistan selber. Dass es einmal möglich sein wird, den Preisträgern von heute für ihren mutigen Einsatz zu danken und sie dabei auch bei ihrem Namen nennen zu können.

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Roman Berger ist Journalist und lebt in Zürich.