Über Paul Grüninger

Stefan Keller

Alice und Paul Grüninger-Federer (Familienbesitz, ohne Jahr)

Referat vor dem Bundesverwaltungsgericht in St. Gallen, 22. November 2017

Meine Damen und Herren, vielen Dank für die Einladung

Wenn man von Paul Grüninger erzählt, der Flüchtlinge gerettet hat, dann muss man immer auch über die Flüchtlinge sprechen, die von ihm gerettet wurden. Ich hatte das grosse Privileg, noch mehrere Dutzend jüdische Flüchtlinge persönlich zu kennen, die dank Paul Grüninger und anderen Helfern oder Helferinnen hier im Kanton St. Gallen aufgenommen wurden und deshalb am Leben bleiben durften. Sie hiessen zum Beispiel Karl und Susi Haber, Benno Mehl und Sally Seifert, Erich Billig, Harry Weinreb, Rosa Schkolnik, Lilly Badner oder Klara Birnbaum, Judith Kohn, Lotte Bloch und so weiter – und sie wohnten, als ich sie kennenlernte, in aller Welt: in Europa, in Amerika, in Israel. Sie waren Zeitzeugen für meine Recherchen – sie wurden Zeugen im Prozess zur Rehabilitierung von Paul Grüninger. Mittlerweile sind fast alle diese Überlebenden in hohem Alter gestorben. Die meisten haben Kinder und Enkel hinterlassen.

Joseph Spring und sein Cousin Sylver Henenberg im Winter 1943. Kurze Zeit später wurden sie von Schweizer Beamten der Gestapo übergeben. (Familienbesitz)

Ich hatte allerdings auch das Privileg, einzelne jüdische Flüchtlinge zu kennen, die damals an der Schweizer Grenze zurückgewiesen und deshalb in Konzentrations- und Vernichtungslager deportiert worden sind. Fast keine, sehr wenige haben diese Lager überlebt. Einer der bekanntesten ist Joseph Spring, der Ende der 1990er Jahre die Schweiz mit unserer Hilfe – mit der Hilfe von Paul Rechsteiner und mir – verklagte und Gerechtigkeit verlangte – in Form einer Wiedergutmachung für ein Verbrechen gegen die Menschheit, das 1943 von Schweizer Beamten an ihm begangen worden war.

Bevor ich über den Fall Grüninger rede, möchte ich zuerst kurz von Joseph Spring erzählen, dies nicht zuletzt weil ich ihn gerade vor zwei Wochen in Melbourne, Australien, besuchte, wo er mit 90 Jahren, mit Ehefrau, Söhnen und Enkelkindern heute noch lebt.

Joseph Spring

Joseph Spring stammte aus Berlin. Er kam Mitte November 1943 mit zwei Cousins bei La Cure im Waadtland über die Schweizer Grenze. Sie flüchteten vor den Massenverhaftungen und Deportationen, die seit Sommer 1942 in Belgien, Holland und Frankreich stattfanden, und mit denen die Jüdinnen und Juden nach Osteuropa zur Vernichtung gebracht wurden. Spring war 16 Jahre alt, er begleitete zwei Cousins, 14 und 21 Jahre, alle drei hatten zwar gefälschte französische Papiere, die sie als «Arier» auswiesen, doch bei den Schweizern gaben sie ihre wahre Identität sofort zu erkennen.

Die jüdische Herkunft und die Verfolgung erschienen ihnen als Grund für Asyl.

Doch die Schweizer Grenzwächter wiesen die drei Flüchtlinge ab und schickten sie zurück. Als sie in der nächsten Nacht noch einmal versuchten, sich in die Schweiz zu retten – ein 21-Jähriger, ein 16-Jähriger, ein 14-Jähriger, wurden sie von Schweizer Beamten festgenommen und der Gestapo als Gefangene ausgeliefert. Während die Schweizer Grenzwächter die drei Burschen am 15. November 1943 den Deutsche übergaben, wiesen sie ihre Kollegen noch extra darauf hin, dass es sich hier um Juden handelte.

Sie händigten der Geheimen Staatspolizei auch die richtigen Papiere aus, welche die Flüchtlinge in ihre Rucksäcke eingenäht hatten. Am Tag der Ankunft im Vernichtungslager Auschwitz wurden die beiden Cousins – sie hiessen Henri und Sylver Henenberg – sofort vergast.

Joseph Spring jedoch überlebte Auschwitz auf wunderbare Weise und dank der Hilfe eines älteren Mannes, der ihn beschützte. Spring überlebte mit unwahrscheinlichem Glück auch zwei Todesmärsche und weitere Lager in Deutschland, bis ihn im April 1945 amerikanische Truppen befreiten.

 

Zum Zeitpunkt von Springs Auslieferung an die Deutschen – im November 1943 – hatte man übrigens in Bern über die Vorgänge in den Vernichtungslagern bereits ziemlich detailliert Bescheid gewusst. Man besass sogar Zahlen über die Kapazitäten der Krematorien von Auschwitz in den Akten, wie wir heute aus der historischen Forschung wissen. Niemand von den Schweizer Beamten, die Joseph Spring zur Gestapo brachten, konnte 1943 erwarten, dass Joseph Spring seine Auslieferung überleben würde.

Meine Damen und Herren, ich bin Historiker und nicht Jurist. Paul Rechsteiner kann Ihnen erzählen, wie und warum Joseph Spring den Prozess um Wiedergutmachung mehr als 50 Jahre nach der Auslieferung vor dem Schweizerischen Bundesgericht verloren hat. Und warum andererseits Paul Grüninger, der gerade solche Verbrechen an Flüchtlingen verhinderte, wenige Jahre früher – nämlich 1995 – vom Bezirksgericht St. Gallen rehabilitiert worden ist.

Ich möchte Ihnen kurz berichten, wer Paul Grüninger gewesen ist und was er tat.

Paul Grüninger

Paul Grüninger, von Beruf Primarlehrer, wurde Mitte der 1920er Jahre Polizeikommandant des Kantons St. Gallen. Er gehörte der freisinnig-demokratischen Partei an, ab 1930 hatte er in Regierungsrat Valentin Keel einen sozialdemokratischen Vorgesetzten. Grüninger war evangelisch, er scheint jedoch seine Religion so wenig aktiv wie seine Parteizugehörigkeit praktiziert zu haben. Seine Leidenschaft war der Fussball, zweimal präsidierte er den St. Galler Fussballclub SC Brühl, ansonsten blieb er unauffällig. Ein guter, pflichtbewusster Beamter und Staatsbürger, ein eher ruhiger, aber leutseliger Mann, wie manche sagen. Ein sorgender Familienvater.

Mit dem Aufstieg des Nationalsozialismus in Deutschland und des Austrofaschismus in Österreich veränderte sich die Lage an der Ostschweizer Grenze in den 1930er Jahren radikal. Waren es zuvor vor allem Staatenlose und Vertriebene aus dem Ersten Weltkrieg gewesen, die an dieser Grenze hin- und hergeschoben wurden, so kamen jetzt plötzlich politische Flüchtlinge über Rhein und Bodensee: Verfolgte Gewerkschafter, Kommunisten, Sozialdemokraten, bald auch Spanienfreiwillige, also europäische Linke und Demokraten, die auf republikanischer Seite im Spanischen Bürgerkrieg mitkämpfen wollten. Der Transfer von Spanienkämpfern war in der Schweiz wie in den umliegenden Ländern verboten. Um ihn zu ermöglichen, entstanden im St. Galler Rheintal erste Schlepperorganisationen.

Im März 1938 eroberte Deutschland das Nachbarland Österreich. Die Bevölkerung stand an der Strasse und jubelte den Invasoren zu. Sofort nach diesem sogenannten Anschluss setzten in Österreich, vor allem in Wien, gewaltige Pogrome ein, Jüdinnen und Juden wurden auf die Strasse getrieben und gequält, man raubte sie aus, liess sie das Pflaster mit Zahnbürsten putzen, verprügelte sie, steckte sie in Konzentrationslager, schlug sie tot oder trieb sie in den Selbstmord. Eine Massenflucht begann. Viele Juden und Jüdinnen wurden in Wien verhaftet und nur unter der Bedingung freigelassen, dass sie in kürzester Zeit – in 24 Stunden – das Land verliessen. Viele Familien schickten zuerst die am stärksten bedrohten, erwachsenen oder halbwüchsigen Söhne, danach die Töchter ins Ausland, und für die Eltern, die zuletzt fliehen wollten, war es am Ende dann oft zu spät.

An der Schweizer Grenze hatten Flüchtlinge in jenen Wochen weniger die deutsche als die schweizerische Grenzwache zu fürchten. Die Deutschen wollten die Juden und Jüdinnen los werden, und die Schweizer wollten sie nicht übernehmen. In eidgenössischen Amtsstuben sprach man von der Gefahr einer «Verjudung» des Landes. Man führte noch im März eine Visumspflicht für Österreicherinnen und Österreicher ein, die Erteilung eines Schweizer Visums wurde dabei von der Vorlage eines Arierausweises abhängig gemacht. Juden erhielten als potenzielle Flüchtlinge grundsätzlich kein Visum.

Ein halbes Jahr später, als die Deutschen die österreichischen Pässe durch deutsche Reichspässe ersetzten, vereinbarten die Schweiz und das «Dritte Reich» in zähen Verhandlungen den bekannten und berüchtigten Juden-Stempel, um fliehende Juden von nichtjüdischen Touristen und Geschäftsleuten unterscheiden zu können. Alle Juden des nationalsozialistischen Machtbereichs erhielten ab Herbst 1938 einen J-Stempel in den Pass. Auf Pässe mit J-Stempel gab es in der Schweiz keine Einreiseerlaubnis.

Längst kamen die jüdischen Flüchtlinge jedoch illegal ins Land. Sie überschritten den Rhein mit Hilfe von Schleppern, von professionellen Schmugglern oder von politischen Aktivisten aus der Zeit des Transfers der Spanienkämpfer, welche die geheimen Wege bereits bestens kannten. So genannte Einfallstore für jüdische Flüchtlinge waren vor allem die rechtsrheinischen Gebiete der Schweiz: Etwa bei Diepoldsau im St. Galler Rheintal, bei Schaffhausen oder bei Basel.

Die jüdischen Organisationen der Schweiz wurden von der Eidgenossenschaft gezwungen, sämtliche Kosten für jüdische Flüchtlinge zu übernehmen. Der Chef der Eidgenössischen Polizeiabteilung, Heinrich Rothmund, protestierte in Berlin «mit grossem Ernst» gegen das «Einschleusen» von Juden «mit Hilfe der Wiener Polizei». Man könne die Juden in der Schweiz «ebenso wenig brauchen» wie in Deutschland, sagte der höchste Schweizer Polizeibeamte.

Im August 1938 beschloss der Bundesrat schliesslich, die Grenze für Juden zu sperren und sämtliche illegal einreisenden Flüchtlinge ausnahmslos zurückzuschaffen.

Grüningers Taten

In dieser Situation also – Spätsommer, Herbst und Winter 1938/39 – hätte Paul Grüninger als Polizeikommandant im Kanton St. Gallen die Flüchtlinge abschieben und aktiv zurückweisen müssen. Dass er dies nicht tat, oder nur selten, hat ihn im Frühjahr 1939 seine Stelle gekostet. Es hat ihn wirtschaftlich ruiniert, er wurde deswegen gerichtlich verurteilt – und es hat ihn bis heute unsterblich gemacht.

Statt die Flüchtlinge zu ihren Verfolgern zurück zu bringen, hat Grüninger die Befehle aus Bern ignoriert und viele hundert weitere Flüchtlinge im Kanton St. Gallen aufgenommen. Er hat mit der Jüdischen Flüchtlingshilfe ein Aufnahmelager in Diepoldsau organisiert. Er hat die Fälle der illegal Einreisenden einzeln geprüft und die Leute nicht zurückgewiesen. Er hat in einigen Fällen sogar Flüchtlingen mit schriftlichen Einladungen geholfen, ihren Verfolgern zu entgehen, er hat zum Beispiel Briefe mit Einreiseerlaubnis nach Dachau geschickt, um Juden aus dem Konzentrationslager zu befreien. Vor allem aber hat er die Leute toleriert, die ohne sein Zutun über die Grenze kamen. Er wusste, was ihnen sonst passieren konnte. Er sprach mit den Leuten und brachte es nicht übers Herz, sie der Gestapo und der SS und dem Nazimob auszuliefern.

Als die Sache allmählich ruchbar wurde – man konnte in dieser ländlichen Region nicht immer mehr Flüchtlinge beherbergen, ohne dass es auffiel – liess Paul Grüninger die Einreisedaten der Jüdinnen und Juden auf die Zeit vor der Grenzsperre zurückdatieren, er liess auf längere Zeiträume verteilen und korrigieren, wenn ein Flüchtling weiterreisen konnte – etwa nach Frankreich oder nach Amerika – dann vergab man in St. Gallen die freiwerdende Aktennummer an einen neuen Flüchtling, man benützte sie also mehrmals – so dass wir heute gar nicht mehr ermitteln können, wieviele Jüdinnen und Juden dank Grüninger tatsächlich gerettet wurden.

Manche sprechen von insgesamt 3000 Menschen, wir können es nicht beweisen, zweifellos waren es mehrere hundert bis einige tausend, aber dank der manipulierten Akten gibt es keine Belege dafür.

Im Frühjahr 1939 wurde Paul Grüninger abgesetzt und fristlos entlassen. Sein Vorgesetzter, Valentin Keel, der zumindest teilweise von Grüningers Taten gewusst haben muss, war selber unter Druck geraten und liess ihn fallen. In Bern drängte die Eidgenössische Fremdenpolizei darauf, die Lücke in der Grenzsperre zu schliessen und an dem ungehorsamen Polizeikommandanten ein Exempel zu statuieren, das auch für andere Beamte – etwa für die Polizei in Basel – eine Warnung sein sollte.

Nach einem langen und quälenden Verfahren – es gab wilde und gezielt gestreute Gerüchte über angebliche Untaten des St.Galler Landjägerhauptmanns, über Korruption und Frauenbeziehungen, es gibt solche Gerüchte bis heute – wurde Paul Grüninger im Herbst 1940 wegen Amtspflichtverletzung und Urkundenfälschung zu einer Geldstrafe von 300 Franken verurteilt. Das Gericht stellte dabei fest, dass Grüningers Taten ihren Grund einzig und allein in dem – Zitat – «objektiv rechtswidrigen, aber subjektiv menschlich verständlichen und entschuldbaren Einreisenlassen Flüchtliger hatten» und dass der Hauptmann, ich zitiere erneut, «keinerlei persönlichen Vorteil für sich beabsichtigte noch sonst erhielt».

Grüninger war damals 49 Jahre alt, er hatte seine langjährige Stelle als Spitzenbeamter, die Dienstwohnung, die Pension und durch die Gerüchtemacherei vor allem auch den guten Ruf verloren. Er war tief gestürzt und fand jahrzehntelang keine geregelte Arbeit mehr. Die St. Galler Regierung verhinderte beispielsweise, dass er wieder als Lehrer arbeiten konnte. Seine Tochter, die heute noch lebende Ruth Roduner-Grüninger, musste ihre Ausbildung abbrechen, um die Familie zu ernähren. Grüninger lebte bis ans Ende seiner Tage von Gelegenheitsjobs und als armer Mann.

Grüningers Rehabilitierung

Kommen wir noch kurz auf die Rehabilitierung zu sprechen. Es vergingen rund dreissig Jahre, bis sich in der Öffentlichkeit zum ersten Mal jemand für den abgesetzten und verfemten Polizeihauptmann einsetzte, und es waren zwischen 1968 und 1993 sechs oder sieben einzelne Vorstösse nötig, eine lange öffentliche Kampagne, eine historische Untersuchung, sehr viele politischen Verhandlungen und noch mehr juristische Arbeit, bis der Regierungsrat 1993 zuerst die politische Rehabilitierung, das Bezirksgericht St. Gallen dann 1995 eine juristische Rehabilitierung und schliesslich der Regierungsrat 1998 eine materielle Wiedergutmachung beschloss. Die Details dieser in aller Offenheit geführten Rehabilitierungskampagnen können Sie im Nachwort zu meinem Buch «Grüningers Fall» von 1993 nachlesen oder in der Dissertation von Wulff Bickenbach, «Gerechtigkeit für Paul Grüninger», die 2009 erschienen ist.

Lassen Sie mich zum Schluss eine Frage vorwegnehmen, die mir bei solchen Anlässen wie dem heutigen regelmässig gestellt wird: Warum hat Paul Grüninger das getan? Warum hat ein Polizeikommandant seine Karriere geopfert, Befehle und Bestimmungen ignoriert, Urkunden gefälscht, um Menschen zu retten?

Ich kann diese Frage nämlich nicht beantworten. Ich kann nur zurückfragen: Warum haben andere das nicht getan? Warum konnte zum Beispiel der Polizeikommandant des benach­barten Grenzkantons Thurgau – auch er ein sorgender Familienvater und ein guter freisinniger Staatsbürger – sich öffentlich damit brüsten, dass er keine Juden aufnehme, keinen einzigen, selbst noch als rundum in Europa die Juden nicht mehr bloss systematisch verfolgt und vertrieben, sondern ausgerottet wurden? Wie brachten andere Beamte es fertig, derart menschenfeindlich zu handeln und – im Wissen um die Folgen! – die Leute zurück zu schicken?

Warum konnten also die Grenzwächter im waadtländischen La Cure noch zu einem Zeitpunkt, als der Krieg schon entschieden war, den sechzehnjährigen Joseph Spring und seine Cousins Henri und Sylver Henenberg als Gefangene an ihre Verfolger ausliefern, sie als Juden denunzieren und damit ihr Todesurteil sprechen?

Und warum konnte das Schweizerische Bundesgericht im Wiedergutmachungsfall «Joseph Spring gegen die Schweizerische Eidgenossenschaft» auch ein halbes Jahrhundert später nicht anerkennen, das solche Taten keineswegs legal, sondern abscheuliche Verbrechen waren?

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.