Paul Rechsteiner: Paul Grüninger Preis 2023

Paul Rechsteiner, Präsident Paul Grüninger Stiftung, Paula Weremiuk, Paul Grüninger Preisträgerin 2023, Berfin Gökkan, Anwältin der inhaftierten Ayşe Gökkan, die von der Stiftung mit einer Anerkennung ausgezeichnet wurde, Sarah Lanz-Roduner, Urenkelin von Paul Grüninger und Mitglied des Stiftungsrates der Paul Grüninger Stiftung. (von links nach rechts) am 17. November 2023 in St. Gallen
Foto: Urs Bucher/ubupix.com

Paul Rechsteiner, Präsident des Stiftungsrates der Paul Grüninger Stiftung

Begrüssung

Im Namen des Stiftungsrates der Paul Grüninger Stiftung begrüsse ich Sie herzlich zur Verleihung des Paul Grüninger Preises 2023. Gegründet wurde die Stiftung 1998, also vor exakt 25 Jahren.

Die Gründung der Stiftung war die Folge der politischen und rechtlichen Rehabilitierung von Paul Grüninger. Die Rehabilitierung musste über lange Jahre gegen enorme Widerstände erkämpft werden. Paul Grüninger selbst – er starb 1972 – konnte sie nicht mehr erleben. Seine Nachkommen, allen voran seine Tochter Ruth Roduner-Grüninger, entschieden sich, die Entschädigung für den entgangenen Lohn und die Pension in eine Stiftung einzubringen. Ruth Roduner, langjährige Präsidentin der Paul Grüninger Stiftung, ist Ende 2021 mit über 100 Jahren verstorben. Ihr Leben war mit dem ihres Vaters eng verknüpft. Ein Studium blieb ihr nach der Verfemung und fristlosen Entlassung ihres Vaters verwehrt. Im jahrzehntelangen Kampf für seine Rehabilitierung spielte sie eine entscheidende Rolle, wie sie auch die Tätigkeit der Stiftung in den ersten beiden Jahrzehnten massgebend prägte. Wir werden ihrem Mut, ihrer Klugheit, ihrer Liebenswürdigkeit ein ehrendes Andenken bewahren.

Mit dem heutigen Anlass wird der Paul Grüninger Preis zum achten Mal verliehen. Die bisherigen Preisverleihungen waren durchwegs Interventionen für mutiges und menschliches Verhalten in schwierigen Zeiten. Das ist heute nicht anders.

Unter den bisherigen Paul Grüninger Preisen möchte ich an dieser Stelle zwei herausgreifen, den ersten und den beim letzten Mal verliehenen. Der erste Paul Grüninger Preis ging 2001 an die afghanische Ärztin Sima Samar. Dies für den gefährlichen und selbstlosen Einsatz für Gesundheit und Bildung und gegen die Entrechtung von Frauen unter Bedingungen, die wir uns hier nur schwer vorstellen können. Heute müssen wir feststellen, dass die Verhältnisse in Afghanistan für Frauen schlimmer sind als je. Das hat vor kurzem dazu geführt, dass das Staatssekretariat für Migration seine Praxis geändert hat und afghanischen Frauen nun Asyl gewährt wird. Mit Blick auf die Entwicklung in Afghanistan ist die laufende Kampagne rechter Parteien und Medien gegen diese Praxisänderung und die Asylgewährung schwer verständlich.

Der letzte Paul Grüninger Preis, er wurde 2019 verliehen, ging an die Crew des Rettungsschiffs Iuventa auf dem Mittelmeer. Die Iuventa war 2016 in See gestochen, weil Italien seine Seenotrettungsaktion Mare Nostrum eingestellt hatte. Das Mittelmeer, historisch wie kaum eine andere Region ein Ort des wechselseitigen Austauschs verschiedener Gesellschaften, wurde für Europa zum Ort der Schande. Seenotrettung ist kein Verbrechen, sondern eine Verpflichtung nach internationalem See- und Menschenrecht. Trotzdem werden die Seenotretter als Kriminelle verfolgt. Bis heute gilt das auch für die Mitglieder der Iuventa-Crew. Die Prozesse in Süditalien dauern an. Umso wichtiger ist die Solidarität. Menschen retten kann kein Verbrechen sein. Ein Verbrechen ist es, Menschen in Seenot sterben zu lassen.

Der Paul Grüninger Preis dieses Jahres geht mit Paulina Weremiuk an eine mutige und menschlich handelnde Frau aus Narewka, einem Dorf im Nordosten Polens nahe dem Urwald Bialowieza an der Grenze zu Weissrussland. In dieser Region finden Vorgänge statt, über die hier kaum berichtet wird. Der österreichische Schriftsteller Martin Pollack, er kennt Polen wie nur wenige im deutschsprachigen Raum, wird Paulina Weremiuk als Mitglied des Stiftungsrates mit seiner Preisrede würdigen.

Wie schon vor vier Jahren hat der Stiftungsrat entschieden, mit Blick auf die zahlreichen gut begründeten Vorschläge, die auf die Preisausschreibung eingegangen sind, zusätzlich einen Anerkennungspreis auszurichten. Er geht dieses Jahr an die kurdische Feministin und Menschenrechtsverteidigerin Ayse Gökkan aus Nusaybin an der Grenze zwischen der Türkei und Syrien. Ayse Gökkan ist wegen ihres Engagements derzeit inhaftiert. Die Verleihung des Anerkennungspreises ist deshalb auch eine konkrete Intervention der Solidarität. Gewürdigt wird sie für den Stiftungsrat von Tina Leisch, Regisseurin aus Wien. Weil Ayse Gökkan an der Preisverleihung nicht teilnehmen kann, wird an ihrer Stelle ihre Anwältin Berfin Gökkan den Preis entgegennehmen.

Geflüchtete Menschen werden in letzter Zeit, zum wiederholten Mal und noch verstärkt, zum Ziel politisch und medial orchestrierter Kampagnen, quer durch Europa. Europa sei von der Flüchtlingskrise 2015 «traumatisiert», kann man in einem Leitartikel eines führenden Mediums lesen. Traumatisiertes Opfer in der Flüchtlingsfrage sollen nun plötzlich die Wohlstandsgesellschaften in Europa sein, wo es zum Glück seit Jahrzehnten keine Gründe mehr gibt, in andere Länder und Kontinente zu fliehen. Ein blanker Zynismus mit Blick auf die Realitäten, mit den die Menschen konfrontiert sind, die sich heute gezwungen sehen, ihre Heimat zu verlassen. Und angesichts des Schicksals, das Tausende von Geflüchteten auch an Europas Grenzen tagtäglich erfahren.

Politisch wird, auch das zum wiederholten Mal, versucht, den Umgang mit Geflüchteten zu externalisieren, sprich auszulagern. Und das nicht etwa durch eine bessere Unterstützung des chronisch unterfinanzierten UNHCR, der UNO-Flüchtlingshilfe, die oft nicht einmal mehr eine gute Versorgung mit Nahrungsmitteln, geschweige denn eine Schulbildung für die Kinder gewährleisten kann, die diesen Namen verdient. Sondern durch fragwürdige Deals mit Machthabern wie zum Beispiel in Tunesien mit einer miserablen Menschenrechtsbilanz.

Dieser Abend, die Verleihung des Paul Grüninger Preises, ist auch ein Anlass, andere Stimmen zum Klingen zu bringen. Es gibt in unserer Gesellschaft nicht nur Fremdenfeindlichkeit bis hin zum Rassismus, sondern auch eine grosse Solidarität, eine Haltung und ein Handeln im Alltag, in Städten und in vielen Gemeinden, die das ausmachen, was eine lebendige und vielfältige Zivilgesellschaft auszeichnet. Und das nicht nur gegenüber den Geflüchteten aus der Ukraine, wo heute oft schon wieder vergessen ist, was in welchem Ausmass mit etwas gutem Willen in kurzer Zeit möglich wurde.

Die Geschichte zeigt, dass es eine ausschliessende Schweiz und eine solidarische Schweiz gab, ein ausschliessendes Europa und ein solidarisches. Für die betroffenen Menschen war immer die Solidarität entscheidend. 

Der Paul Grüninger Preis setzt ein Zeichen, dass wir uns in unserer Zeit bewähren müssen.

Paul Rechsteiner, 17. November 2023