Ein Aufruf der Paul Grüninger Stiftung: Freispruch für Ayşe Gökkan und sofortige Freilassung

St. Gallen, 8. September 2025

Im Herbst 2023 verlieh die Paul Grüninger Stiftung in St. Gallen einen Anerkennungspreis an die Menschenrechtsverteidigerin Ayşe Gökkan. Gökkan ist die ehemalige Bürgermeisterin von Nusaybin (kurdisch: Nisêbîn), einer kurdischen Grenzstadt in der Türkei. Seit über vier Jahren ist die Journalistin, Politikerin und engagierte Vorkämpferin für Menschenrechte, Frauenrechte und Demokratie unschuldig inhaftiert.

Am 11.September 2025 werden die Gerichtsverfahren gegen Ayşe Gökkan in Diyarbakır neu aufgerollt.

Die Paul Grüninger Stiftung fordert das Strafgericht von Diyarbakır auf, Ayşe Gökkan freizusprechen und sofort aus der Haft zu entlassen.

2021 wurde Gökkan von einem türkischen Gericht wegen angeblicher «Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation und wissentlicher und vorsätzlicher Unterstützung einer illegalen Organisation» zu 26 Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. Das Urteil beruhte ausschließlich auf Aussagen geheimer Zeugen, deren Identitäten weder Ayşe Gökkans Anwälten noch ihr selber bekannt sind. Es ist eine eklatante Verletzung rechtsstaatlicher Prinzipien, mit der das Gericht den Zweck verfolgt, Gökkans legale, friedliche und lange Zeit erfolgreiche politische Arbeit zu behindern.

Ayse Gökkan hat sich unter anderem mit Wort und Tat dem Kampf gegen die Gewalt gegen Frauen engagiert. Das von ihr in Nusaybin gegründete Frauenhaus hat dazu beigetragen, die Zahl der Femizide im letzten Jahr ihrer Amtszeit auf Null zu senken. Als Bürgermeisterin protestierte Gökkan 2013 mit einem Sitz- und Hungerstreik gegen die Errichtung einer Grenzmauer zwischen den kurdischen Städten Nusaybin (auf türkischem Territorium) und Qamislo (auf syrischem Territorium). Die Mauer sollte dazu dienen, den Verkehr zwischen kurdischen Familien diesseits und jenseits der Grenze zu unterbinden und die Flucht aus dem syrischen Bürgerkrieg zu verunmöglichen. Als Bürgermeisterin bestand Gökkan darauf, Amtsgeschäfte auch in Kurmanci, der Familiensprache von 80% der Bürger:innen Nusaybins, abzuhalten. Den besonderen Zorn staatlicher türkischer Stellen zog sie auf sich, als sie die sexistische Gewalt, die von staatlichen Sicherheitsorganen, Polizei und Militärs ausgeübt wird, recherchierte und publik machte.

Die Paul Grüninger Stiftung fordert das Strafgericht in Diyarbakır und das türkische Justizministerium nochmals auf: Stellen Sie das Verfahren ein! Sprechen Sie Ayşe Gökkan frei und entlassen Sie sie sofort aus der Haft!

Die Paul Grüninger Stiftung ist in Erinnerung an den St. Galler Polizeihauptmann Paul Grüninger gegründet worden, der wegen seiner Hilfe für jüdische Flüchtlinge 1940 fristlos entlassen und erst 1995 rehabilitiert wurde. Die Stiftung zeichnet Menschen aus, die heute im Sinne Paul Grüningers handeln.

Für die Paul Grüninger Stiftung

Paul Rechsteiner, Präsident, St. Gallen

Dr. Stefan Keller, Vizepräsident, Zürich

Für Rückfragen: Tina Leisch, Mitglied des Stiftungsrates, Wien: office@tinaleisch.at, +43 699 194 222 09

Anerkennungspreis der Paul Grüninger Stiftung für Ayşe Gökkan

Die Flüchtlinge, Paul Grüninger und die Erinnerungspolitik

Gespräch am St. Galler Montagsforum vom 27. Februar 2023 mit Lea Haller, Stefan Keller und Paul Rechsteiner.

Lea Haller ist Redaktionsleiterin von «NZZ-Geschichte», Stefan Keller ist Journalist und Autor des Buches «Grüningers Fall», Paul Rechsteiner ist ehemaliger Ständerat und Präsident der Paul Grüninger Stiftung.

Emigrantenschmuggler an der Schweizer Grenze

Stefan Keller

Der Text erschien erstmals in: Wolfram Wette [Hrsg.], «Stille Helden. Judenretter im Dreiländereck während des Zweiten Weltkriegs», Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 2005)

Marie Grimm, Fluchthelferin, 1999

Am 20. Dezember 2004 starb in Genf die pensionierte Lehrerin Aimée Stitelmann-Stauffer, eine freundliche und bescheidene, fast achtzigjährige Frau. Wenige Monate vor ihrem Tod war Aimée Stitelmann für kurze Zeit berühmt geworden: Die «New York Times», «Le Monde», die «Süddeutsche Zeitung» und fast alle schweizerischen Blätter veröffentlichten Artikel über sie, denn Stitelmann gehörte zu jenen Menschen, die im Zweiten Weltkrieg jüdische Flüchtlinge über die Grenze gerettet hatten und dafür von den Schweizer Behörden bestraft worden waren. Aimée Stitelmann-Stauffer war eine der letzten noch lebenden Fluchthelferinnen aus der Zeit des Nationalsozialismus. Ausserdem war sie die erste, auf die ein neues, seit 1. Januar 2004 geltendes Gesetz angewandt worden ist: Im März 2004 beschloss eine Kommission der Eidgenössischen Räte – des Schweizer Parlamentes – Aimée Stitelmann formell zu rehabilitieren. Eine Strafe von achtzehn Tagen Arrest, die sie 1945 wegen illegalem Überschreiten der Grenze und wegen «Ungehorsam» abgesessen hatte, gilt seither als aufgehoben. Eine materielle Wiedergutmachung erhielt Frau Stitelmann jedoch nie.

Jüdischer Widerstand

Aimée Stitelmann war siebzehnjährig, als sie Ende 1942 die jüdischen Kinder Hella und Uriel Luft aus Berlin im französischen Annemasse abholte und über die Grenze ins nahe Genf begleitete. Die Kinder wurden von den Schweizer Behörden nicht zurückgeschickt; Jahre später wanderten sie nach Amerika aus, wo sie heute noch leben.

Über Paul Grüninger

Stefan Keller

Alice und Paul Grüninger-Federer (Familienbesitz, ohne Jahr)

Referat vor dem Bundesverwaltungsgericht in St. Gallen, 22. November 2017

Meine Damen und Herren, vielen Dank für die Einladung

Wenn man von Paul Grüninger erzählt, der Flüchtlinge gerettet hat, dann muss man immer auch über die Flüchtlinge sprechen, die von ihm gerettet wurden. Ich hatte das grosse Privileg, noch mehrere Dutzend jüdische Flüchtlinge persönlich zu kennen, die dank Paul Grüninger und anderen Helfern oder Helferinnen hier im Kanton St. Gallen aufgenommen wurden und deshalb am Leben bleiben durften. Sie hiessen zum Beispiel Karl und Susi Haber, Benno Mehl und Sally Seifert, Erich Billig, Harry Weinreb, Rosa Schkolnik, Lilly Badner oder Klara Birnbaum, Judith Kohn, Lotte Bloch und so weiter – und sie wohnten, als ich sie kennenlernte, in aller Welt: in Europa, in Amerika, in Israel. Sie waren Zeitzeugen für meine Recherchen – sie wurden Zeugen im Prozess zur Rehabilitierung von Paul Grüninger. Mittlerweile sind fast alle diese Überlebenden in hohem Alter gestorben. Die meisten haben Kinder und Enkel hinterlassen.